Warum zur Hölle würde ein Mensch wollen, einmal jede Straße seiner – sein wir ehrlich! – eher nicht ansehlichen Stadt erlaufen zu haben? Der Grund ist einfach wie menschlich: Neugierde.
Aufgewachsen im Remscheider südlichsten Süden, kurz vor Wermelskirchen und damit quasi im Rheinland – in Bliedinghausen. Meine Kindheit dort: schön. Richtig schön. Astrid Lindgren-schön. Mein Universum reichte damals von der Preyersmühle bis etwa zur Burger Straße, Ecke Bliedinghauser Straße und vom Sonnenhof bis zur Ziegelstraße. Das Zentrum waren die Sternstraße, die Querstraße, die Steinackerstraße, die Bahnstraße und der erwähnte Sonnenhof. Außerhalb dieser Gefilde gab es damals nichts, was an sich interessant war. Aber bereits die weiterführende Schule, in meinem Fall das Leibniz-Gymnasium in der Brüderstraße, ließ mich erfahren, dass ganz ähnliche Kindheiten auch woanders stattfanden: Am Bruch, in der Stockder Straße, auf der Freiheitstraße oder am Eisernstein. Da lebten Menschen, die ich nett fand, die cool waren. Menschen, die in mein Viertel gut reingepasst hätten. Und was ganz besonders erstaunlich war: die hatten selbst ein Viertel und Freunde, die sie toll fanden.
Ich konnte als damals Elfjähriger gute Geschichten erzählen von meinem saucoolen Onkel Uli, von Buden im „Tannenwald“ und Computerspielen auf dem C64. Die fünfte Klasse ließ mich erkennen: Geschichten wie diese warteten um die nächste Hausecke. Da sind Menschen mit faszinierenden Hobbies; Menschen, die unglaubliche Erlebnisse zu erzählen haben; Menschen, die mich zum Lachen bringen können; Menschen mit tollen Einstellungen zum Leben, zu Dingen, zu Geschehnissen; Menschen mit genialen Ideen.
Leider gibt es nicht Wenige, die sich diesen Erkenntnissen und Einflüssen verweigern. „Wat de Bur nich kennt, dat frett he nich.“ Zum Glück ging es mir nicht so. Ich war überaus interessiert an den Geschichten, die meine Klassenkameraden und deren Freunde zu erzählen haben. So fand ich mich zum Beispiel eines Tages im Kreise der Familie Bagcivan wieder, da mein Schulfreund Nazlim mich dorthin eingeladen hat. Ich ging davon aus, dass wir in seinem Zimmer spielen werden. Aber türkische Familien funktionieren so nicht. Wir saßen alle im Kreis: Nazlim, seine Geschwister, seine Eltern, seine Verwandten – und ich. Der blonde Henning aus der blonden Familie Denkler. Am Anfang fand ich das befremdlich. Aber dann fühlte ich mich wohl. Willkommen.
Wenn ich nachts über Autobahnen oder durch mir nicht bekannte Gegenden fahre und die beleuchteten Häuser und Zimmer an mir vorbeifliegen, stelle ich mir vor, welche Familien dort gerade zusammensitzen und welche Geschichten erzählt werden. Wohnen da vielleicht Menschen, die mein Leben verändert hätten? In der Straße, die gerade namenlos meine Welt betreten und eine Sekunde später wieder verlassen hat: wohnt da vielleicht ein potenzieller bester Freund? Oder eine Freundin? Oder eine Person, die ich irgendwie inspirieren könnte? Ich werde es wohl nie erfahren
Nun, warum eigentlich nicht? Warum sollte ich mir denn kein Bild machen davon, was in anderen Universen so abgeht? Und warum sollte ich mir nicht vorstellen, wie andere Kindheiten vielleicht ausgesehen haben mögen? Ich könnte ja nachschauen gehen – und fange damit in meiner Stadt an!
Walking in Remscheid.
Fotos? Fotos.
Das Projekt ist aber mehr als nur die pure Neugierde und die ständige Suche auf die Antwort nach der Frage: „Was wäre, wenn…?“. Das Projekt stillt außerdem meinen inneren Drang nach Dokumentation und Fotografieren. So möchte ich gerne ein Bild meiner Stadt festhalten, wie sie heute aussieht. Damit man sie einmal anschauen kann, wie sie „damals“ mal war. Es geht nicht um hochwertige, technisch anspruchsvolle und artistische Fotografie, sondern darum, die Stadt im Rohzustand festzuhalten. Und: es geht um Details. Wie diese:















